by Ingo Petz
Werfen Sie einen Blick in das Schaltanlagenwerk Berlin, eine Ikone der Industriegeschichte, in der Siemens Energy eine Revolution mit Hochspannungsschaltanlagen und -systemen schafft, die völlig frei von SF6 und anderen Treibhausgasen sind.
„Solche Revolutionen in der Energietechnik gibt es nur alle 50 Jahre“, sagt Stephan Jorra und schreitet auf das Schulungszentrum zu, in dem die Kunden die zur Bedienung ihrer neuen Schaltanlagen geschult werden. Seine Schritte hallen in der Halle wider – das Werk im Nordwesten Berlins ist riesig und atmet geradezu Geschichte. Seit mehr als einem Jahrhundert ist der Standort eine Innovationsschmiede für die Entwicklung und Herstellung von Geräten, die die Welt mit Strom versorgen.
Jorra, der Geschäftsführer des Siemens-Energie-Schaltanlagenwerks Berlin, kennt den Standort wie seine Westentasche. Wenn er im Gespräch die Geschichte der Schaltanlage Berlin mit Visionen für die Zukunft verbindet, spürt man, wie sehr er sich der Tradition verpflichtet fühlt. „Es ist klar“, sagt er, „ohne all die Pionierarbeit, die hier seit über einem Jahrhundert bei der Entwicklung von Hochspannungsanlagen geleistet wird, könnten wir diesen nächsten epochalen Wandel nicht vorantreiben.“
Stephan Jorra über den Wandel zur nachhaltigen Schaltanlagenproduktion.
Seit 2016 arbeitet Jorra bei Siemens Energy an der Entwicklung und Herstellung von Hochspannungsprodukten, um die Energiewende voranzutreiben und die Energieversorgung nicht nur grüner, sondern auch dezentraler und intelligenter zu machen. Dieser Fortschritt ist wichtiger denn je, denn die EU hat sich vorgenommen, Europa bis 2050 klimaneutral zu machen.
„Vor fünfzig Jahren waren die SF6 -Schalter und -Schaltanlagen eine echte Neuerung“, sagt Jorra. Aber das künstliche Gas Schwefelhexafluorid, abgekürzt SF6, hat zwar hervorragende Isolier- und Löscheigenschaften, aber auch das höchste Erderwärmungspotenzial aller Treibhausgase – etwa 25.000 Mal schädlicher als CO2.
„Jetzt verwenden wir Clean Air, eine Mischung aus 20 Prozent Sauerstoff und 80 Prozent Stickstoff“, sagt er. „Sauberer, umweltfreundlicher und weniger giftig geht es nicht mehr.
Mark Kuschel, Principal Key Expert im Siemens-Energy-Schaltanlagenwerk Berlin, steht vor einem Block aus blauem Aluminium – einer innovativen neuen Schaltanlage, die die Zukunft entscheidend mitgestalten wird: die Blue GIS (gasisolierte Schaltanlage), Teil des Blue-Portfolios des Unternehmens an Leistungsschaltern, Schaltanlagen und Spannungswandlern, die frei von SF6, F-Mischgasen und jeglichen Treibhausgasen sind. Die Blue GIS ist derzeit für die Spannungsebenen 72,5 Kilovolt und 145 Kilovolt erhältlich.
Kuschel zeigt auf das Herzstück des GIS, wo die Vakuumtechnik zum Schalten von Kurzschlüssen eingesetzt wird. „Vakuumschalter haben eine hohe mechanische Zuverlässigkeit“, erklärt er. „Im Vergleich zu SF6 -Schaltanlagen haben sie eine längere elektrische Lebensdauer, so dass häufiger geschaltet werden kann. Und es entstehen keine für Mensch und Umwelt giftigen Zersetzungsprodukte.“
Da Clean-Air-Systeme eine geringere Durchschlagfestigkeit als SF6 haben (wodurch sich bei geringeren Feldstärken Lichtbögen bilden), beklagen einige Kritiker, dass die Systeme mehr Platz benötigen, um die gleichen Isolationseigenschaften zu gewährleisten. Mehr Platz bedeutet mehr Ressourcen und würde sich wiederum negativ auf die CO2-Bilanz des Produkts auswirken.
Aber Kuschel kontert: „Es macht einfach keinen Sinn, einen Windpark, der grüne Energie erzeugt, mit klimaschädlichem F-Gas zu verbinden.“ Clean Air, erklärt er, enthält kein chemisches Fluor und ist völlig ungiftig und unschädlich. „Der geringe Mehraufwand bei der Produktion wird durch den Ersatz von SF6 durch Clean Air absolut überkompensiert. Und im Vergleich zu einigen auf Fluorgas basierenden Lösungen ist die CO2-Bilanz positiv.“
F-Gas-frei und mit Vakuum-Schalttechnik: Der Blue GIS ist eine besonders nachhaltige Schaltanlage und wird die Zukunft entscheidend mitgestalten.
Moderne und leistungsfähige Prüfeinrichtungen im Schaltanlagenwerk Berlin sorgen für zuverlässige Qualitätsprodukte.
Das Blue GIS verwendet Clean Air, ein Gemisch aus 80 Prozent Sauerstoff und 20 Prozent Stickstoff zur Isolierung, und ist damit frei von Fluorstoffen. „Sauberer, umweltfreundlicher und ungiftiger geht es nicht“, sagt Kuschel.
Der orange Ring ist ein Low-Power-Instrument-Transformer (LPIT) – eine Innovation, die Klimaschutz und Effizienz vereint. Im Vergleich zu herkömmlichen Messwandlern spart der LPIT viel Platz und 1.500 Kilogramm Gewicht pro Feld.
Natürlich ist es eine Sache, umweltfreundliche Technologien zu entwickeln, um nachhaltigere Stromnetze zu schaffen. Aber genauso wichtig ist es, diese Produkte umweltbewusst zu entwickeln und herzustellen. Deshalb wird das Schaltanlagenwerk Berlin bereits seit 2018 komplett mit Ökostrom versorgt.
Jetzt konzentriert sich das Unternehmen auf weitere Innovationen, um das Werk und die Anlagen sowohl im Betrieb als auch in der Produktion umweltfreundlicher, sicherer und energieeffizienter zu machen, mit dem Ziel, bis 2030 klimaneutral zu werden.
„Das ist nur ein Beispiel dafür, wie unsere Vorstellungen von Klimaschutz, hochwertiger Innovation und Effizienz zusammenkommen“, sagt Jorra, macht einen Schritt nach rechts und zeigt auf einen orangefarbenen Ring. Das ist der Low-Power-Instrument-Transformer (LPIT), der für die Messung von Strom und Spannung im GIS verwendet wird und sich grundlegend von herkömmlichen Messwandlern unterscheidet.
Dieser LPIT liefert höhere Leistungsdaten, und seine geringeren Abmessungen ermöglichen eine Gewichtsreduzierung, so dass er in Gießharzdurchführungen eingebettet werden kann, die direkt in die Schaltanlage eingebaut werden. „Der LPIT spart 1.500 Kilogramm Gewicht pro Schaltschrank“, sagt Jorra, „eine erhebliche Materialeinsparung und eine positive Auswirkung auf unsere Umweltbilanz.“
Hightech-Lösungen wie diese sind möglich, weil das Berliner Werk über eigenes Gießharz- und Produktions-Know-how verfügt. Mit einer hochmodernen und weitgehend automatisierten Produktion können hochwertige Teile wirtschaftlich hergestellt werden, obwohl die Gießharzproduktion sehr energieintensiv ist.
Doch dank neuer Fertigungstechnologien und eines Energiemanagementsystems ist es Siemens Energy bereits gelungen, die Produktion deutlich energieeffizienter zu gestalten. So konnte beispielsweise allein der Energieverbrauch der Gießharzanlage in den letzten Jahren um 7 Prozent pro Jahr gesenkt werden, was einer Einsparung von 200 Tonnen CO2 entspricht.
Kuschel geht weiter in die Test- und Prüfbereiche der Schaltanlage, wo alle neuen Geräte auf ihre Schaltzuverlässigkeit und Sicherheit geprüft und zertifiziert werden. In einer hohen Halle, in der sich Kondensatoren und Spulen meterhoch stapeln, trifft er auf Lars Klingbeil, den Leiter der akkreditierten Prüf- und Forschungslabore des Schaltanlagenwerks bei Siemens Energy.
Klingbeil, ebenfalls seit fast 20 Jahren bei Siemens Energy, leitet das Prüffeld – eines der größten der Welt. „Hier entwickeln wir alle unsere Produkte und führen eigenständige Typprüfungen durch, was ein ganz wichtiger Erfolgsfaktor unseres Standortes Berlin ist“, erklärt er.
„Wir erzeugen kurzzeitig die Spannung, die entsteht, wenn ein Schutzschalter nach einem Kurzschluss erfolgreich abgeschaltet hat.“ Die gründliche Prüfung ist ein komplexer Prozess, der große Mengen an Energie erfordert. „Die Anforderungen an eine Schaltanlage sind sehr hoch, und das zu Recht. Bei Kurzschlüssen im Netz haben wir es mit enormen Energiemengen zu tun, die unsere Schaltanlagen bewältigen müssen – und genau das stellen wir hier unter Beweis.“
Das gilt für die Blue GIS und alle kommenden Produkte. „Wir entwickeln völlig neue Schaltgeräte für verschiedene Hochspannungsebenen, und es ist ein großer Vorteil, den Entwicklungs- und Fertigungsprozess vor Ort mit den notwendigen Prüfungen und Zertifizierungen begleiten und absichern zu können.“
Bei der Planung komplexer Neuanlagen suchen die Kunden nach zukunftsweisenden, klimaneutralen und treibhausgasfreien Technologien. Und mit kontinuierlichen Innovationen sorgen wir dafür, dass unsere Produkte wettbewerbsfähig bleiben.
Principal Key Expert, Schaltanlagenbau Berlin, Siemens Energy
Mark Kuschel (links) und Lars Klingbeil, Leiter der Prüfeinrichtungen im Werk: „Es ist ein großer Vorteil, den Entwicklungs- und Fertigungsprozess vor Ort mit den notwendigen Tests zu begleiten und abzusichern.“
Derzeit sind für Spannungen über 145 Kilovolt nur passive Schaltgeräte verfügbar, in den kommenden Jahren wird das Portfolio der Blue-Produkte jedoch auf die Spannungsebenen 245, 420 und 550 Kilovolt erweitert. Mit den Clean-Air-Produkten setzt Siemens Energy den Standard für Nachhaltigkeit und hat die führende Marktposition bei alternativen Produkten für SF6; mehr als 1.900 Blue-Geräte wurden bereits bestellt, und mehr als 700 Geräte sind bereits in Betrieb, darunter ein Vorzeigeprojekt im Hafen von Bergen in Norwegen.
Kuschel ist sich sicher, dass die Nachfrage rasch steigen wird. „Der Bau komplexer Neuanlagen, wie wir sie ausrüsten, hat eine jahrelange Vorlaufzeit. Die Kunden suchen bei der Planung nach zukunftsweisenden, klimaneutralen und treibhausgasfreien Technologien. Und wir sorgen mit ständigen Innovationen dafür, dass unsere Produkte wettbewerbsfähig bleiben. Wir erhalten bereits Anfragen aus Asien und Nordamerika. Es ist klar, dass Clean Air Produkte die nächsten Jahrzehnte entscheidend prägen werden.“
Nach der anstehenden Novellierung der europäischen F-Gase-Verordnung und Chemikalienstrategie sollen die klima- und gesundheitsschädlichen F-Gase reduziert und in Zukunft schließlich ganz verboten werden. Klare ordnungspolitische Maßnahmen wie diese, betont Kuschel, schaffen Planungssicherheit für Anwender und Hersteller.
Kein Wunder, dass das weitläufige Gelände der historischen Schaltanlagenfabrik mit Neubauten und Renovierungen, mit neuen Ideen und Umgestaltungen zukunftsorientiert gestrafft wird. „Es war klar, dass unsere Produktion auch weiterhin in Berlin bleiben wird“, sagt Jorra mit Nachdruck. Die kurzen Wege zwischen Entwicklung, Erprobung und Produktion, die Erfahrung und die Nähe zu den Hochschulen sind entscheidend, um hochkomplexe Produkt- und Prozessinnovationen voranzutreiben. Er blickt hinüber zur historischen Versuchshalle. „Wir tun dies mit dem Wissen aus der Geschichte und dem Antrieb, eine nachhaltige Energieversorgung für die Zukunft zu gestalten. Von Berlin aus für die Welt.“
Februar 2022
Der Autor und Journalist Ingo Petz lebt in Berlin, wo er für einige der renommiertesten Publikationen im deutschsprachigen Raum geschrieben hat, darunter die Frankfurter Allgemeine Zeitung und Der Standard.
Kombinierter Bild- und Videonachweis: Stefan Hobmaier