Während Sie diesen Artikel lesen, wird die Energieversorgung weltweit auf den Kopf gestellt. Der Aufwand ist immens, aber es entsteht auch eine entscheidende Chance, die Dekarbonisierung entlang der gesamten Wertschöpfungskette der grünen Energieübertragung anzugehen.
Der Übergang zu sauberer Energie ist von großer Bedeutung. Allein in Europa sind die Länder dabei, die Treibhausgasemissionen bis zum Ende des Jahrzehnts um 55 Prozent im Vergleich zu 1999 zu reduzieren und die Kapazität der erneuerbaren Energien auf 40 Prozent zu erhöhen.
Außerdem erfordert die Umstellung des Energiemixes eine erweiterte und modernisierte Infrastruktur, die für die Übertragung grüner Energie geeignet ist. Nach einer aktuellen Berechnung von BloombergNEF werden weltweit mehr als 150 Millionen Kilometer neue Stromleitungen benötigt – mehr als doppelt so lang wie das heutige Netz.
„Der erforderliche Aufwand ist enorm“, sagt Christina Iosifidou, „aber er birgt auch ein riesiges Potenzial für die Dekarbonisierung entlang der gesamten Wertschöpfungskette – von den Rohstoffen bis zu den Fertigprodukten.“
Das ist eine Win-Win-Situation – nicht nur für die drei Partner, sondern für die Gesellschaft als Ganzes.
Christina Iosifidou
Leiterin der Abteilung Sustainability Grid Technologies bei Siemens Energy
Iosifidou steht an vorderster Front, wenn es darum geht, die notwendigen Partnerschaften für dieses Vorhaben zu schmieden. Als Leiterin des Bereichs Sustainability Grid Technologies bei Siemens Energy bringt sie kontinuierlich Lieferanten, Kunden und Kollegen zusammen, um innovative Kooperationen für den Klimaschutz zu schaffen.
Deshalb ist sie froh, sich mit Matthias Dürr und Marie Jaroni, den Nachhaltigkeitsmanagern von Amprion und Thyssenkrupp, zusammenzutun. Gemeinsam mit Siemens Energy arbeiten die Unternehmen an einer der größten neuen Hochspannungsverbindungen in Deutschland, Ultranet, einer 340 Kilometer langen Leitung, die Windenergie aus dem Norden dorthin bringen soll, wo sie im Süden dringend gebraucht wird.
Ultranet wird letztlich dazu beitragen, den Weg für ein klimaneutrales Energiesystem in Europa zu ebnen. „Wir kennen die Technologien, die wir für die Energiewende brauchen“, sagt Iosifidou, „aber wir müssen uns auch fragen, wie wir die Emissionen in unserer Lieferkette senken können.“
Amprion ist einer der vier Übertragungsnetzbetreiber in Deutschland und deckt insbesondere den Westen des Landes ab. Für das Jahr 2022 hatte sich das Unternehmen bereits das Ziel gesetzt, die CO2 Emissionen aus eigenen Quellen und eingekaufter Energie, allgemein bekannt als Scope-1- und Scope-2-Emissionen, zu reduzieren.
Bis 2032 will Amprion nun auch die Scope-3-Emissionen um 60 Prozent reduzieren – also die Emissionen in der Wertschöpfungskette, die durch eingekaufte Waren oder Dienstleistungen entstehen und für die das Unternehmen indirekt verantwortlich ist.
Wir alle wollen und müssen kohlenstoffneutral werden.
Matthias Dürr
Leiter der Abteilung Nachhaltigkeit, Amprion
„Wir alle wollen und müssen kohlenstoffneutral werden“, sagt Matthias Dürr, Head of European Affairs and Sustainability Management bei Amprion. Nicht nur, um den Rahmen und die Taxonomie der EU zu erfüllen, sondern auch, weil Nachhaltigkeit ein immer wichtigeres Gut wird. Ein Beispiel dafür sind grüne Anleihen auf dem internationalen Kapitalmarkt, die für eigene Investitionen benötigt werden. Die erste grüne Anleihe von Amprion mit einem Volumen von 1,8 Milliarden Euro war ein großer Erfolg. Amprion plant, in Zukunft hauptsächlich grüne Anleihen zu begeben, um die notwendigen Investitionen zu finanzieren.
Die Investitionen sind gewaltig: Da viele der Erneuerbare-Energien-Anlagen offshore und an anderen Standorten als die bisherigen Kohle- und Atomkraftwerke stehen werden, müssen von Grund auf neue Stromübertragungsleitungen gebaut werden, um die Energie in die Ballungszentren und die Industrie zu transportieren. Amprion plant, bis 2027 rund 22 Milliarden Euro in den Umbau des Energiesystems zu investieren.
Ein solches Projekt ist die Ultranet-Stromverbindung, die derzeit in Angriff genommen wird: eine große neue Hochspannungs-Gleichstrom-Verbindung (HGÜ), die rund 2 000 Megawatt elektrische Energie in beide Richtungen übertragen wird. „Das Projekt“, so Iosifidou, „ist ein perfektes Beispiel dafür, wie Unternehmen ihre Kräfte bündeln, um Emissionen zu bekämpfen.
„Der weitaus größte Teil der Emissionen entsteht durch elektrische Verluste im Netz“, sagt Dürr. „Je länger die Übertragungsstrecke, desto größer die Verluste.“ Die Verringerung dieser Verluste hängt von der Effizienz der verwendeten Transformatoren ab. Sie kann aber auch mit einer Minimierung der Emissionen in der Lieferkette kombiniert werden.
Das Transformatorenwerk von Siemens Energy in Nürnberg, Deutschland, ist einer der Standorte, an denen der grüne Wandel stattfindet. Es handelt sich um einen beeindruckenden Komplex mit großen Industriegebäuden etwas außerhalb des Stadtzentrums. Da die Anforderungen an Trafostationen je nach Verwendungszweck variieren, werden alle hier gebauten Transformatoren individuell angefertigt.
Stefan Pieper ist einer der erfahrensten Ingenieure von Siemens Energy auf diesem Gebiet. „Einmal installiert, sind Transformatoren mehr als 40 Jahre in Betrieb“, sagt Stefan Pieper. „Deshalb lohnt es sich, das jetzige Zeitfenster zu nutzen.“ Deutschland plant, bis 2030 30 Gigawatt an Offshore-Windenergie zu installieren, wofür Dutzende neuer Transformatoren benötigt werden. Allein Ultranet benötigt 39.
„Unsere eigenen Emissionen machen weniger als 1 Prozent der Emissionen entlang der Wertschöpfungskette unserer Produkte aus“, sagt Iosifidou. Der Rest der Emissionen stammt aus den von ihnen bezogenen Materialien und der späteren Nutzung ihrer Produkte (Scope-3-Emissionen) – einer der Gründe, warum Siemens Energy Partnerschaften mit anderen eingeht.
Moderne Transformatoren können mit nur 0,3 Prozent Verlusten betrieben werden – das ist schon toll.
Stefan Pieper
Leiter des Bereichs Große Leistungstransformatoren Europa bei Siemens Energy
Um den eigenen Anteil von weniger als 1 Prozent zu reduzieren, wurden bereits große Anstrengungen unternommen, z.B. durch die Elektrifizierung des Fuhrparks und der Gabelstapler. Darüber hinaus werden derzeit fünf große Power-to-Heat-Trockenöfen gebaut, die die bisherigen gasbetriebenen Trockner in Nürnberg ersetzen. Der Einsatz der neuen Trockenschränke spart bis zu 1.600 Tonnen CO2 -Äquivalente pro Jahr.
Der größte Hebel, so Pieper, ist der Wirkungsgrad des Transformators. „Moderne Transformatoren können mit nur 0,3 Prozent Verlusten betrieben werden – das ist schon sehr gut“, sagt Pieper. „Es lohnt sich aber finanziell und ökologisch, sich noch weiter zu verbessern.“ Das seien Punkte, die auch für die Kunden von Siemens Energy interessant seien, fügt er hinzu.
Ein weiterer großer Fortschritt bei der Herstellung von Transformatoren ist die Verwendung von kohlenstoffarmen Materialien. „Für die Ultranet-Transformatoren konnten wir grünen Stahl verwenden, wodurch wir mehr als 200 Tonnen CO2e-Emissionen pro Transformator einsparen konnten.“
„Netztechnologien wie Transformatoren“, sagt Christina Iosifidou, „fallen zu mehr als 95 Prozent in Scope 3. Die wichtigsten Emissionsverursacher in unserer Lieferkette für Transformatoren sind Stahl und Kupfer.“
Für die Ultranet-Transformatoren verwendet Siemens Energy Elektroband mit der Bezeichnung „Bluemint“. Der Stahl wird bei thyssenkrupp mit Sitz in Duisburg und Essen (Deutschland) mit reduzierten CO2 -Emissionen hergestellt, verfügt aber über exakt die gleichen Qualitätsstandards und einen deutlich höheren Wirkungsgrad.
Die Stahlproduktion mit ihren hohen Temperaturen und komplexen Herstellungsprozessen verschlingt viel Energie, sagt Marie Jaroni, Leiterin des Bereichs Dekarbonisierung und Nachhaltigkeit bei thyssenkrupp. Das Potenzial, noch mehr Kohlenstoffemissionen einzusparen, ist also enorm: „Die deutsche Stahlindustrie ist für sieben Prozent des gesamten CO2-Ausstoßes verantwortlich.“
Das Potenzial ist enorm – die deutsche Stahlindustrie steht für sieben Prozent des gesamten CO2-Ausstoßes in Deutschland.
Marie Jaroni
Leiterin der Abteilung Dekarbonisierung und Nachhaltigkeit bei thyssenkrupp
Derzeit baut thyssenkrupp in seinem Stahlwerk in Duisburg eine Direktreduktionsanlage, die mit Eisenerz und reduziertem Sauerstoff statt mit Kohle betrieben wird und bis 2027 in Betrieb gehen soll. Mit Hilfe von Wasserstoff und Kohlenmonoxid wird Eisenerz durch die Reduktion von Sauerstoff in sogenanntes „direkt reduziertes Eisen“ umgewandelt. Auf diese Weise wird die Erhitzung des Erzes auf seinen Schmelzpunkt vermieden und ein erheblicher Anteil der Kohlenstoffemissionen entfällt.
„Aber schon jetzt optimieren wir alle unsere Prozesse, um Emissionen zu sparen“, sagt Jaroni. Um nur ein Beispiel zu nennen: thyssenkrupp setzt bereits seit einigen Jahren Recyclingmaterial in den Hochöfen ein.
Dies ist einer der Gründe, warum sich dies auszahlt: Die CO2 -Zertifikate, die Kohlenstoffemissionen einen Preis geben, werden immer teurer. Deshalb wird in naher Zukunft nur noch kohlenstoffreduzierter Stahl produziert werden.
Sie sieht aber noch Bedarf an weiteren politischen Rahmensetzungen und Masterplänen – nicht nur in Deutschland, sondern auf europäischer Ebene. „Wir werden einen enormen Bedarf an grüner Energie und grünem Wasserstoff haben. Für uns ist es wichtig, dass die Frage der Verfügbarkeit von Gütern wie Wasserstoff bald geklärt wird.“ Darüber hinaus sind auch genaue rechtliche Definitionen erforderlich – z.B. was als „grüner Stahl“, „grüner Wasserstoff“ usw. gilt. „Dieser Input muss von der politischen Seite kommen“, sagt Jaroni.
Die kohlenstoffreduzierte Stahlproduktion ist nur eines von vielen Beispielen für die gewaltigen Anstrengungen der gesamten Energiewende, denn es finden viele komplexe Veränderungen gleichzeitig statt: Die erneuerbaren Energien werden ausgebaut, während die Energieerzeugung von Kohle, Öl und Gas abgekoppelt wird. Windparks erfordern stärkere und zusätzliche Stromnetze.
Wenn ein Unternehmen seinen ökologischen Fußabdruck entlang der Wertschöpfungskette reduziert, profitieren das gesamte Produkt, alle Partner und die Gesellschaft als Ganzes davon. Und dieses Bewusstsein ist inzwischen in allen Bereichen der Wirtschaft angekommen.
„Die Energiewende voranzutreiben, kann helfen, neue Marktanteile in einem ansonsten hart umkämpften Geschäft zu gewinnen“, sagt Iosifidou, „Unternehmen werden attraktiver für die Endkunden.“ Am Ende ist es eine Win-Win-Win-Situation – nicht nur für die drei Partner, sondern für die Gesellschaft als Ganzes.
April 2023
Florian Bayer lebt als freier Journalist in Wien, Österreich, wo er für Zeit Online, Der Standard und die Wiener Zeitung geschrieben hat.
Kombinierter Bild- und Videonachweis: Anna Schroll bei Siemens Energy Nürnberg; Frank Peterschröder bei Amprion in Duisburg; Rainer Kayser bei thyssenkrupp in Essen