by Christina Hümmer
Die Innovationen ihres Teams auf dem Gebiet des Gleichstroms tragen dazu bei, dass an der spanischen Küste eine monumentale elektrotechnische Meisterleistung entsteht: die erste Offshore-Konverterplattform, die mit neuen gasisolierten Gleichstrom-Schaltanlagen ausgestattet ist.
Die Küsten Südspaniens sind seit jeher einer der mythischen Orte der Zivilisationen: Der griechische Halbgott Herkules selbst soll die Küstenstadt Cádiz in der Nähe der Straße von Gibraltar gegründet haben.
Wer in der malerischen Altstadt von Cádiz den Blick nach Osten richtet, sieht am Horizont eine riesige Stahlkonstruktion - das Ergebnis einer wahren Herkulesaufgabe der technischen Superlative. Hier bauen der spanische EPC-Auftragnehmer Dragados Offshore S.A. und Siemens Energy die Konverterplattform DolWin kappa.
DolWin kappa ist das Herzstück des Netzanbindungssystems DolWin6 von TenneT, dem in der EU führenden grünen Offshore-Netzbetreiber. DolWin6 ist eine 900-Megawatt-Verbindung, die für TenneT, Übertragungsnetzbetreiber des Hochspannungsnetzes in den Niederlanden und großen Teilen Deutschlands, den Offshore-Windstrom aus der deutschen Nordsee an Land transportieren kann. Nach der Inbetriebnahme wird die Plattform rund 56 Meter aus der Nordsee ragen – so hoch wie ein 18-stöckiges Gebäude. Ihr Gesamtgewicht von 11.000 Tonnen wird von 10 Stahlpfählen getragen, die bis zu 50 Meter tief im Meeresboden verankert sind.
Wir sprechen hier von bis zu 15.000 Komponenten in 200 Subsystemen, die integriert werden müssen.
Maria Kosse
Leitende Ingenieurin HVDC, Siemens Energy
DolWin kappa wird den Wechselstrom aus mehreren Windparks aufnehmen und in Gleichstrom umwandeln. Nur so kann der Strom möglichst verlustfrei über 90 Kilometer bis zum Netzanschlusspunkt an Land transportiert werden. Dort wird er in einer zweiten Konverterstation wieder in Wechselstrom umgewandelt, damit der Strom ins Netz eingespeist und zu den Haushalten transportiert werden kann.
Es ist ein komplexes Zusammenspiel verschiedenster Stromübertragungstechnologien: „Wir sprechen hier von bis zu 15.000 Komponenten in 200 Teilsystemen, die integriert werden müssen“, sagt Dr. Maria Kosse von Siemens Energy. Als leitende Ingenieurin für Netzanschlusssysteme ist es ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass alle Komponenten der Umrichterplattform perfekt zusammenspielen. Vom Herzstück der Konverterplattform, den Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragungsumrichtern, bis zum Gehirn der Plattform, den Steuerungs- und Schutzsystemen, die rund 400.000 Signale verarbeiten müssen, muss jede Funktion und jede Technologie einwandfrei funktionieren, um grünen Strom in jeden Haushalt zu liefern. Es ist jedoch nicht das Gehirn oder das Herz der Umrichterplattform, sondern eine andere Technologie, die Marias Augen leuchten lässt.
Maria zeigt das Innere der Konverterplattform DolWin kappa. Im August 2022 trat sie ihre Reise in die Nordsee an. Als Teil eines 900-Megawatt-Netzzugangsnetzes wird sie mehr als eine Million Haushalte in Deutschland mit grünem Windstrom versorgen.
In DolWin kappa wird weltweit zum ersten Mal eine gasisolierte Gleichstrom-Schaltanlage (DC-GIS) offshore eingesetzt. Maria, die für die Entwicklung von Schaltanlagen bis ±550 kV verantwortlich ist, begleitete die DC-GIS von einem frühen Stadium im Jahr 2016 bis zur erfolgreichen Inbetriebnahmeprüfung in der Werft von Cádiz im Jahr 2021.
Für die Anbindung von Offshore-Windparks, bei denen der Platz knapp bemessen ist, bringt die DC-GIS einen entscheidenden Vorteil: Während eine vergleichbare luftisolierte Schaltanlage in Standardkonfiguration 4.000 Kubikmeter benötigen würde, benötigt die DC-GIS nur 200 Kubikmeter. Darüber hinaus braucht sie nicht einmal einen eigenen Raum auf den Plattformen, sondern kann einfach in den Raum einer anderen Technik eingebaut werden.
Mit einem um bis zu 95 Prozent reduzierten Platzbedarf haben Maria und ihr Team neue Wege in der Isolationstechnologie beschritten und damit eine der platz- und damit kostensparendsten Technologien für den Netzzugang bei Offshore-Windkraftanlagen geschaffen, die es ermöglicht, Konverterplattformen wie DolWin kappa so kompakt wie möglich zu bauen und wertvolle Ressourcen zu sparen.
Maria wusste schon früh, dass sie Ingenieurin werden wollte: Bei einem zweiwöchigen Schulpraktikum in der Hochspannungsprüfhalle der Technischen Universität Dresden entdeckte sie ihre Liebe zur Elektrotechnik. „Ich habe einen Blitz gesehen und es hat laut geknistert. Und ich dachte: So eine elektrische Entladung sieht einfach schön aus“, sagt Maria lachend. „Nach den ersten Tagen meines Praktikums wusste ich einfach: Das will ich machen! Das will ich studieren!“
Diese starke Entschlossenheit, die anfangs von Familie und Freunden noch als kindliche Verliebtheit einer 15-Jährigen in ein Praktikum belächelt wurde, entpuppte sich als Ausgangspunkt einer zielgerichteten Karriere: Noch während der Schulzeit folgten weitere Praktika an der Technischen Universität Dresden, und direkt nach dem Abitur begann Maria dort ihr Diplomstudium der Elektrotechnik und sammelte weitere Auslandserfahrungen während eines Semesters an der Staatlichen Polytechnischen Universität Sankt Petersburg in Russland.
Während eines halbjährigen Praktikums in China sammelte sie erste praktische Erfahrungen mit dem Thema Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragungsumrichter (HGÜ) für die HGÜ-Verbindung Ningdong-Shandong. Das Thema reizte sie, weil „die Technologie so viele Vorteile hat und ich das Gefühl hatte, dass ich da noch etwas entdecken kann.“
Und es gab tatsächlich noch mehr zu entdecken: Das breite Themenspektrum ihres Grundstudiums kommt der erfahrenen Ingenieurin heute besonders zugute. Maria wusste auch, dass sie nach ihrem Diplom im Bereich der Hochspannungstechnik noch spezifischer werden wollte und entschied sich für eine Promotion. Das Thema ihrer Dissertation: Überschlagverhalten von Gas-Feststoff-Isoliersystemen unter Gleichspannungsbeanspruchung.
Bei den Versuchen, die sie im Rahmen ihrer Diplomarbeit durchführte, war eine zentrale Frage: Bei welcher Spannungshöhe und nach welcher Zeit kommt es zu einem Durchschlag oder Überschlag, d. h. ab wann wird das Isoliersystem in der Schaltanlage leitfähig und verliert seine Isolierfähigkeit? Durch Experimente mit verschiedenen Spannungsbelastungsdauern beobachtete Maria die Unterschiede zwischen der Anwendung von Wechsel- und Gleichspannung auf das Isoliersystem. Und Gleichstrom ist geduldig:
Erst durch Langzeitversuche konnte Maria experimentell nachweisen, dass sich das elektrische Feld in DC-GIS verändert: „Im Vergleich zu AC-GIS ist das DC-GIS-Gas-Feststoff-Isoliersystem zum Zeitpunkt der Erregung einem elektrostatischen Feld ausgesetzt, gefolgt von einem Feldübergang in ein elektrisches Flussfeld, das von mehreren Faktoren, wie den verwendeten Materialien und deren Temperatur, stark beeinflusst wird.“
Als Maria nach Abschluss ihrer Promotion die Entwicklung des DC-GIS bei Siemens Energy leitete, waren dies wichtige Erkenntnisse: Während das DC-GIS auf der bewährten AC-GIS-Technologie des Unternehmens basiert, musste ein neuer Isolator entwickelt und getestet werden, der diese DC-spezifischen Aspekte bewältigen konnte. Und mit ihrer umfangreichen Ausbildung und Erfahrung in der Hochspannungstechnik von der Universität konnte sie auch mehrere Tests des DC-GIS durchführen und bei Bedarf auch selbst an den Geräten arbeiten – manchmal zur Überraschung ihrer Kollegen.
Wenn Maria über die Herausforderungen spricht, die mit der Arbeit in männerdominierten Bereichen einhergehen, geht es von der Arbeitskleidung mit Größen, die in erster Linie auf Männer zugeschnitten sind, bis hin zu der Tatsache, dass viele Kollegen die Fähigkeiten einer jungen Ingenieurin zunächst in Frage stellen – was zu dem Gefühl führt, sich immer wieder beweisen zu müssen. Indem sie sich selbstbewusst auf ihre eigenen technischen Fähigkeiten konzentriert und sich selbst und andere herausfordert, diese weiterzuentwickeln, trägt Maria dazu bei, Geschlechterstereotypen zu überwinden, und ist ein Vorbild für andere junge Ingenieurinnen und Ingenieure, indem sie ihnen zeigt, wie aufregend das Fachgebiet sein kann, und die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sie selbst zu Innovatoren werden.
Maria Kosse hat die Entwicklung des DC-GIS für DolWin kappa von Anfang an begleitet. Jetzt wird das System zum ersten Mal offshore eingesetzt.
Und heute? Die Entwicklung steht nicht still: Während die erste Generation von DC-GIS bis ±336 Kilovolt (kV) verfügbar war, ist sie heute bereits bis ±550 kV verfügbar – ein wesentlicher Technologiesprung, um in Zukunft noch leistungsfähigere Netzanschlüsse mit bis zu zwei Gigawatt Leistung realisieren zu können.
Unweit von Cádiz soll Herkules am Ausgang des Mittelmeers die lateinische Inschrift Non plus ultra, auf Deutsch „Nicht weiter“, angebracht haben, um das Ende der Welt, wie wir sie kennen, zu markieren. Vor dem Hintergrund des Klimawandels wird die Energielandschaft weltweit völlig neu überdacht und die Grenzen des Bekannten in der Technik müssen immer wieder neu durchbrochen werden – so wie es Maria und ihr Team mit der Entwicklung des DC GIS getan haben. Während Maria heute weiter an der Standardisierung der DC-GIS-Technologie in internationalen technischen Organisationen wie CIGRE und IEC arbeitet, arbeiten Ingenieure bei Siemens Energy bereits an der nächsten Generation des DC-GIS, die anstelle von fluorierten Gasen klimaneutrale Clean Air, eine industriell gereinigte Luft, verwendet, um den Transport von Windenergie noch umweltfreundlicher zu machen.
Denn eines ist klar: Wenn wir es nicht schaffen, die erneuerbaren Energien effizient in unsere Energiesysteme zu integrieren und damit den globalen Klimawandel zu begrenzen, dann werden wir wirklich das Ende der Welt, wie wir sie kennen, erleben.
August, 2022
Christina Hümmer arbeitet in der Kommunikationsabteilung von Siemens Energy.
Kombinierter Bild- und Videonachweis: Siemens Energie; TenneT